Das narrative Tiefeninterview
Die Grundlage für das narrative Tiefeninterview bildet das von Fritz Schütze (1977, 1983, 1987) entwickelte narrative Interview. Wenn man aber ein narratives Interview mit Hilfe der von Alfred Lorenzer (1986) begründeten Tiefenhermeneutik auswertet, dann ist es notwendig, auch die Beziehungssituation zu rekonstruieren, die sich während des Interviews zwischen dem Interviewten und dem Interviewer oder der Interviewerin entfaltet. Es geht also um den szenischen Gehalt des narrativen Interviews. Damit ist die Untersuchung der Frage gemeint, was sich zwischen der Interviewten und dem Interviewer/der Interviewerin über den Austausch von Gesten auf eine sinnlich-anschauliche Weise inszeniert.
Wenn man ein narratives Interview erhebt, sollte man daher in seinem Forschungstagebuch auch protokollieren, unter welchen Umständen das Interview zustande gekommen ist, in welcher Atmosphäre es stattfand und wie man oder frau die interviewte Person und die Gesprächssituation erlebt hat. Aus diesem Grunde ist es auch sinnvoll, während der Interviewsituation aufgetretene Konflikte, Missverständnisse und Irritationen zu notieren. Wichtig ist zudem, wie man sich nach dem Interview gefühlt hat und was einem dazu einfällt, wenn man anschließend darauf reflektiert und sich daran erinnert. Die Erhebung des narrativen Interviews sollte daher durch ein zeitnah durchgeführtes Gedächtnisprotokoll ergänzt werden, in dem das Erleben der Interviewsituation, die dadurch ausgelösten Einfälle und Irritationen festgehalten werden. Vielleicht verdichtet sich das Erleben der Interviewsituation in einer sich aus dem Nachdenken darüber ergebenen Phantasie oder einer bildhaften Vorstellung.
Um zu konkretisieren, wie sich der szenische Gehalt der Interviewsituation erfassen lässt, sollen an dieser Stelle eine Reihe von Fragen aufgelistet werden, die vielleicht weiter helfen: Wie kam die Kontaktaufnahme zustande? Wie ist die Interviewte darauf eingegangen (interessiert, zögernd, mit Bedenken …). Wo fand die Interviewsituation statt? Wie war der Raum beschaffen? Gab es Störungen durch das Auftreten Dritter oder durch Telefongespräche? Welche Übertragung entwickelte die Interviewte? Begrüsste Sie die Interviewerin oder den Interviewer freudig, zurückhaltend, distanziert, ängstlich oder misstrauisch? Fühlte man oder frau sich willkommen oder eher nicht? Gab es etwas, was in der Interviewsituation irritierte (was befremdete, was irgendwie eigenartig war?) Geschah etwas Überraschendes? Was wurde besprochen, bevor das Mikrofon eingeschaltet wurde? Mit welcher Gegenübertragung reagierte die Interviewerin/der Interviewer? Verfolgte man selbst das Interview interessiert und aufmerksam? Oder war man irgendwie angespannt und nervös? Oder wurde man irgendwie müde? Fühlte man sich irgendwann gelangweilt oder schweiften die Gedanken irgendwann ab? Musste frau oder man plötzlich an etwas ganz anderes denken? Und was war das dann? Ist einem irgendwo das Auftauchen eines Gefühls des Ärgers, der Verstimmung, der Aufregung, der Trauer, des Schmerzes, der Scham oder Schuld, der Neugier oder Freude oder Begeisterung aufgefallen? Reagierte die Interviewerin oder der Interviewer an einer Stelle des Interviews körperlich (Herzklopfen, ein Anflug von Kopfschmerzen oder Bauchschmerzen)? Was für eine emotionale Qualität hatte die Interviewsituation (sehr ruhig, gelassen, nachdenklich, angestrengt, beengend, gequält, beschämend)? Welchen Eindruck machte die Interviewte: Hat sie dem Interviewten oder der Interviewten etwas Informatives erzählt, worüber sie eben Bescheid weiß? Oder vermittelte die Interviewte dem Interviewer/der Interviewerin das Gefühl, dass sie noch einmal bestimmte Lebenssituationen durchlebt hat, ja, dass sie das Interview emotional bewegt und ihr etwas Neues erschlossen hat? Oder war es irgendwo zwischen beiden Polen? Hat es im Verlaufe des Gesprächs eine Interviewsituation gegeben, welche für die Interviewte oder für die Interviewerin/den Interviewer schwierig war? Hat die Interviewte nach dem Abstellen des Mikrofons noch etwas hinzugefügt, sich darüber geäußert, wie sie die Situation empfand? Oder hat sie noch etwas erzählt, was sie bei laufender Aufnahme nicht sagen wollte? Wie fühlte die Interviewerin oder der Interviewer sich nach dem Interview? Ging ihr oder ihm danach noch etwas durch den Kopf? Beschäftigte ihn oder sie noch etwas? Lässt sich der Eindruck, welchen die Interviewerin oder der Interviewer von der Interaktionssituation mit der Interviewten gewonnen hat, in ein Bild (aus dem Familienalltag, aus dem Berufsleben, aus dem kulturellen Leben, aus Literatur oder aus Fernsehen und Kino, aus Märchen oder Mythen übersetzen, das anschaulich macht, wie diese Situation beschaffen war?
Diese Fragen stellen Anregungen dar, die Hilfestellungen für das Ziel sein sollen, das sich – um es noch einmal zusammenfassend festzuhalten – folgendermaßen benennen lässt: Es geht darum, die szenische Entfaltung der Interviewsituation, das Atmosphärische dieser Erhebungssituation zu erfassen, die Affekte, die sich im Kontakt zwischen Interviewerin/Interviewer und Interviewten über den Austausch von Gesten, Mimik und Tonfall entwickelt haben. Es soll erschlossen werden, was nonverbal zwischen Interviewer und Interviewten stattgefunden hat und was damit den Rahmen darstellt, in dem sich das narrative Interview entfaltet hat.
Das bedeutet aber, dass sich die verborgene Bedeutung des narrativen Tiefeninterviews in dem Maße zureichend entfalten lässt, wie sich die Inhalte und die Form des Interviews zu dem sprachsymbolischen und sinnlich-unmittelbaren Interagieren zwischen interviewter Person und Interviewerin/Interviewer in Beziehung setzen lassen. Wenn aber das narrative Tiefeninterview in dieser Weise erhoben wird, dann lässt es sich optimal mit Hilfe der Methode der Tiefenhermeneutik (vgl. auch König 2001, 2008) auswerten.
Hans-Dieter König
Literaturverzeichnis:
König, H.-D. (2001): Tiefenhermeneutik als Methode psychoanalytischer Kulturforschung. In: Appelsmeyer, H. & Billmann-Mahecha, E. (Hg.): Kulturwissenschaft,. Felder einer prozessorientierten wissenschaftlichen Praxis. Weilerswist (Velbrück), S. 168–194.
König, H.-D. (2008): Die Methode der psychoanalytisch-tiefenhermeneutischen Kulturforschung. In: König, George W. Bush und der fanatische Krieg gegen den Terrorismus. Eine psychoanalytische Studie zum Autoritarismus in Amerika. Gießen, 17-43.
Lorenzer, A. (1986): Tiefenhermeneutische Kulturanalyse. In: König, H. D.; Lorenzer, A. et. al.: Kultur-Analysen. Psychoanalytische Studien zur Kultur, Frankfurt a. M. (Fischer), S. 11–98.
Schütze, F. (1977): Die Technik des narrativen Interviews in Interaktionsfeldstudien – dargestellt an einem Projekt zur Erforschung der kommunalen Machtstrukturen. Bielefeld.
Schütze, F. (1983): Biographieforschung und narratives Interview. In: Neue Praxis, H. 3, S. 283-293.
Schütze, F. (1987): Das narrative Interview in Interaktionsfeldstudien I. Kurseinheit 1. Fernuniversität/Gesamthochschule Hagen.